Stille Bylle – Der erzählung sechster Teil

(Und weiter geht’s im Text mit dem, was ich heute am Morgen geschafft habe).Als Gesken die Tür aufstieß, setzte der Westminsterschlag der Standuhr im Speisezimmer ein. Es war genau vier Uhr. Und alle waren gekommen, die Kollegen, die Mitschüler von Bylle, die alte Lehrerin, mit denen sie zum ersten Mal im Sommer des Jahres 1978 hierher gekommen waren und die sehenden Begleiter. Bläss hatte Gesken nicht mitgebracht. Die Hündin war bei Bente junior, der siebenjährigen Enkelin von Frau Piepenbrink. Gesken wollte einfach nicht, dass die treue Seele, die langsam damit begann sich etwas von dem Verlust ihrer Besitzerin zu erholen, über mehrere Stunden mit Leuten wie dem dicken Prinzen, die sie nicht leiden konnten, zusammen sein musste. Und das Kind und die Hündin kannten einander doch recht gut.

Während Gesken den Gang zwischen den beiden Tischreihen entlang ging, befiel sie das Gefühl unfähig zu sein wie immer, wenn sie vor einer größeren Gruppe sprechen sollte. Um diesem Gefühl und der Unsicherheit, die daraus folgen musste, etwas entgegenzusetzen, konzentrierte sie sich auf die Stimmung, die im Speiseraum herrschte. Nicht nur, dass niemand zu bemerken schien, wie viel Unbehagen sie empfand, und dass Unsicherheit in ihr aufkeimen wollte. Mehr noch, alle Anwesenden vermittelten ihr den Eindruck, dass sie unverschämt selbstsicher und gekonnt auftreten würde. So schnappte sie den Blick von Frau Baumanns auf, die die Begleiterin der alten Lehrerin Frau Karoline Gerhard war, auf, der empört fragte: „Wie kann man bei so was so ruhig und selbstbewusst daher kommen?“

Frau Piepenbrink hatte ein Stehpult für Gesken hingestellt, wie sie es sich gewünscht hatte. Und endlich erreichte sie das Pult, legte den Ordner mit den Aufzeichnungen von und über Sibylle Leuchteblau auf der oberen Platte ab, hielt einen Augenblick inne, um einen Moment lang die Erleichterung zu genießen und wirken zu lassen, dass sie sich der Situation im wahrsten Wortsinn stellen konnte. Und auch die Stereoanlage stand bereit, damit Gesken ab und zu eine Pause machen konnte, in der Musik von Sibylle Leuchteblau alias Euterpe Leonberger erklingen konnte.

Der dicke Prinz saß Gesken am Nächsten, er schaukelte auf seinem Stuhl hin und her, hatte eine Tasse Kaffee und ein Stück Pflaumenkuchen vor sich stehen und ihm dauerte die Zeit, die Gesken brauchte, um sich zu sammeln zu lange. Also maulte er: „Warum fangen Sie nicht endlich an? War wohl überhaupt nicht interessant und ergiebig, was Sie da gefunden haben? Geben Sie es doch endlich zu. Dann erzählen wir Ihnen eben, was so Sache war. Und der Drops ist bald gelutscht!“ Obwohl Gesken ursprünglich überhaupt nicht vorgehabt hatte, irgendeine Erklärung zur Einleitung abzugeben, entschied sie sich spontan dazu direkt auf die Worte von Herrn von Hohlberg zu reagieren.

„Moin, zusammen! Herr von Hohlberg ich muss Sie enttäuschen. Dass ich die Musik von Euterpe Leonberger alias Sibylle Leuchteblau gehört und ihre persönliche Bilanz gelesen und bearbeitet habe, war für mich persönlich und allgemein noch viel interessanter und aufschlussreicher, als ich zu hoffen gewagt hatte. Und ich befürchte, Sie werden alle überrascht sein von dem, was Sie über Bylle erfahren.“ Gesken sah nacheinander alle Personen im Speiseraum an. Sie sah viele enttäuschte Gesichter. Nur Ramona Fuchs, Jan Wilhelmsen und Bente Piepenbrink lächelten. Und das Lächeln machte ihr Mut. Und sie schaffte es nicht wieder den dicken Prinzen anzusehen, der selbstgefällig schaukelnd auf seinem Platz saß und dabei platzgreifend, wichtigtuerisch und aufdringlich war. Und als Gesken auf die schwarzen Buchstaben auf dem Titelblatt, das sie für das Dokument erstellt hatte, blickte, stellte sich augenblicklich das gute Gefühl, die Seelenverwandtschaft zwischen Bylle und ihr wieder ein. Und dieses gute Gefühl, das Gesken während der gesamten Zeit, als sie in ihrem Hotelzimmer die Musik von Euterpe Leonberger gehört und die aktuelle Bilanz von Sibylle Leuchteblau gelesen und bearbeitet hatte, hatte sie in der vergangenen Nacht am Vormittag und am Nachmittag nicht verlassen. Und wenn es ihr nur gelang vollkommen bei sich und dem, was sie tat zu bleiben, wäre es ihr möglich diese Seelenverwandtschaft den ganzen Nachmittag zu spüren und die Kraft zu bekommen, die sie brauchte, um sich vor all diesen Menschen mit all ihren Erwartungen zu behaupten. Sie schaffte es. Und daher merkte sie gar nicht, wie alle, die im Speiseraum des Viermasters zusammengekommen waren, in den Bann von Sibylle Leuchteblaus Leben und die Erzählung von Euterpe Leonberger gezogen wurden. Wie angemessen Gesken gehandelt hatte, indem sie die Musik von Euterpe Leonberger hörend die persönliche Bilanz über Sibylle Leuchteblau abgeschrieben, in eine neue Form gebracht und zu guter Letzt die Gedanken über Euterpe Leonberger vorangestellt hatte, um alles ruhig am Pult stehend vorzutragen, begriff Gesken erst, als sie genau einen Tag später mit Jan Wilhelmsen bei Kaffee und Streuselkuchen mit frischen Pflaumen von Frau Piepenbrink noch einmal über den Fall und Bylles Leben und Werk sprach.

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Stille Bylle fünfter Morgen des Textlandes bearbeitet!

(Trotz des großen Kummers, der mich bezogen auf das Buch Orca plagt, geht es sehr gut weiter im Text.)Dr. Jan Wilhelmsen stand mit einer Ledermappe unter dem linken Arm bei seinem roten Kombi und ließ den Eingang des Hotels nicht aus den Augen. Als er sah, dass Gesken und Bläss heraus kamen, ging er auf Geskens Auto zu und wartete geduldig am Heck des Wagens auf sie.
„Warum bist Du noch hier?“, fragte sie. Wilhelmsen hielt ihr die Ledermappe hin und sagte: „Ich hab auf Dich gewartet. Ich hab was für Dich, was Dir sehr helfen wird, Sibylle Leuchteblau alias Euterpe Leonberger höchst persönlich kennenzulernen. In dem Etui sind alle Aufnahmen, die Euterpe Leonberger jemals als Jazzpianistin und Flötistin jemals gemacht hat. Ich habe die Sticks nummeriert, sodass Du ihr musikalisches Schaffen vom Anfang bis zum Ende verfolgen kannst.“
„Ich verstehe nichts von Musik!“ Er lächelte. „Du hast gute Ohren, Herz und Verstand, bist aufgeschlossen. Das ist mehr als genug, um etwas von diesen Sachen zu haben!“ Und Wilhelmsen hörte nicht auf zu lächeln.

Dr. Jan Wilhelmsen war ein Musikfan und -kenner. Das wusste jeder, der ihn kannte. Und Gesken fühlte sich geehrt, dass er ihr einen Teil seiner Musiksammlung anvertraute, auch wenn es nur für wenige Stunden war. „Bist Du ein Fan?“ er nickte. „Hast Du jemals mit ihr persönlich gesprochen?“, er nickte abermals. „Sie kam jedes Jahr in unseren Jazzclub. Denn bei uns hatte sie ihre ersten Erfolge. Ihr Auftritt bei uns war immer am dritten Samstag im August. Und ich wusste, dass sie diesmal ihren Auftritt auf den dritten Samstag im September verschoben hatte, weil sie in der nächsten Woche eine Polypenop vornehmen lassen musste. Das ist, wie es häufig vorkommt, die Folge einer Nebenhöhlenentzündung.“

Es war überflüssig Jan Wilhelmsen zu fragen, warum er von alledem im Hotelzimmer nichts gesagt hatte. Es war unnötig gewesen darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Und es wäre peinlich gewesen, wie Wilhelmsens Freude an Musik und freundliche Gespräche in einem Jazzclub Wissmanns Phantasie in Gang gesetzt hätte bis daraus wohl ein heißes Liebesverhältnis geworden wäre, das Wilhelmsen angeblich befangen gemacht hätte. „Und ich werde vorsichtshalber die Ergebnisse meiner Untersuchungen von einem Kollegen gegenprüfen lassen!“, sagte Jan Wilhelmsen schließlich und zwinkerte Gesken zu.

Gesken bedankte sich für die Sticks und bat den Pathologen: „Kannst Du bitte auch um vier Uhr hier sein!“ ER nickte, nachdem er kurz auf seine Armbanduhr gesehen hatte. „Bis dahin werde ich wohl schon die wichtigsten Ergebnisse haben! Ich sag dann mal viel erfolg und bis nachher!“ Dann wandte er sich winkend ab, stieg in seinen Kombi und fuhr zum gerichtsmedizinischen Institut. Bläss sah dem Mann, der genauso groß war Gesken und ihre verstorbene Besitzerin wehmütig nach. Gesken beugte sich zu ihr herunter, kraulte sie im Nacken und an den Ohren und sagte beruhigend: „Ach, ja, Du kennst ihn auch. der kommt wieder. Und er hilft uns ganz bestimmt.“
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